PV-Retrofit auf Bestands­dächern über 100 kWp: Statik, Technik und Brandschutz unter dem Brennglas

Wer eine Photovoltaik­anlage im dreistelligen Kilowattbereich auf ein bestehendes Hallendach setzen möchte, merkt schnell, dass es nicht damit getan ist, Module aneinander­zureihen und Wechselrichter an die Wand zu schrauben. Jedes Kilowatt bringt Gewicht, elektrische Spannung und brand­schutztechnische Verantwortung mit. In Deutschland entscheidet vor allem die Kombination aus Bauordnungs­recht, VDE-Normen und DIN-Statik darüber, ob das Projekt im Zeit- und Kostenplan bleibt oder in einer Endlos­schleife aus Nachbesserungen versinkt. Der folgende Beitrag beleuchtet die technischen Hürden Schritt für Schritt – von der ersten Bestands­aufnahme bis zum letzten Abnahme­protokoll – und erklärt, warum ein solides Statik­gutachten und ein durchdachtes Brandschutz­konzept die eigentlichen Game-Changer im PV-Retrofit sind.

1. Der Startpunkt: Warum Dächer ab 100 kWp eigene Gesetzmäßigkeiten haben

Anlagen jenseits der 100-Kilowatt-Grenze sind in zweierlei Hinsicht ein Sonderfall. Erstens bewegen sie sich häufig oberhalb der Schwelle, ab der Netzbetreiber gemäß VDE-AR-N 4105 einen eigenen Einspeise­punkt im Mittelspannungs­netz oder zumindest aufwändige Blindleistungs­regelungen verlangen. Zweitens überschreiten sie die Bagatell­grenze vieler Landes­bauordnungen, sodass das Vorhaben als „wesentliche bauliche Veränderung“ behandlungs­pflichtig wird. Ein subtiles, aber entscheidendes Detail: Selbst wenn das Gebäude ursprünglich als „PV-ready“ genehmigt wurde, gilt jede Leistungs­erweiterung als neuer Eingriff in die Tragstruktur. Der Bauherr muss also nachweisen, dass Schneelast, Windsog und das Eigengewicht der Unter­konstruktion im Einklang mit DIN EN 1991-1-3, DIN EN 1991-1-4 sowie der alten DIN 1055 stehen. Ohne belastbare Zahlen aus einem qualifizierten Statikerbüro riskiert man nicht nur Baustopps, sondern auch den Verlust des Versicherungs­schutzes.

2. Bestands­analyse: Von Bauplänen und Reality-Checks

Die Praxis zeigt, dass Bestands­unterlagen ganz oder teilweise fehlen. Selbst bei Hallen aus den 2000ern liegen oft nur schematische Zeichnungen oder statische Berechnungen vor, die nach damaligen Normen erstellt wurden. Im ersten Vor-Ort-Termin wird daher das Dach als reale Lastfläche vermessen und mittels Endoskopie, Ultraschall oder Zugversuch geprüft, welches Material sich unter Trapezblech oder Bitumen versteckt. Neben der Tragfähigkeit der Pfetten geht es um Korrosions­zustand, Feuchte­einträge und Durchbiegung. Der Clou: Bereits ein Millimeter zusätzliche Durchbiegung unter Schneelast kann den statischen Sicherheits­koeffizienten kippen. Der Prüfingenieur errechnet anschließend, wie viel Zusatzlast – meist zwischen 12 und 20 kg/m² für Module plus Schienensystem – ohne Verstärkung zulässig ist.

3. Das Statik­gutachten: Rechenmodell statt Bauchgefühl

Kommt die Bestandsanalyse zu dem Schluss, dass das Dach die zusätzliche Punkt- und Flächenlast nicht klaglos trägt, gibt es drei Optionen: Modulfeld reduzieren, zusätzliche Verstärkungen (etwa Stahlseile zwischen Pfetten oder Schweißträger) einziehen oder das Montagesystem auf ballastarme Lösungen umstellen. Moderne Planungs­software importiert Wind- und Schneelastdaten direkt aus GIS-Systemen und simuliert Szenarien, in denen sich Modul­ausrichtung, Aufständerungs­winkel und Ballast variieren lassen. Ein Statik­gutachten, das diese Optionen transparent vergleicht, spart später teure Nachrüstungen. Wichtig ist, dass der Gutachter nicht nur die Eigenlast der Photovoltaik berücksichtigt, sondern auch temporäre Montage­kräfte, Wartungs­lasten und mögliche Schwingungen durch Wechselrichter­bänke.

4. Elektrotechnische Tücken: Von der DC-Seite bis zur Netz­einbindung

Bei Installationen über 100 kWp steigen die DC-Spannungen leicht in den Bereich von 1000 Volt. Die DIN VDE 0100-712 fordert in diesem Kontext klare Trennpunkte, gut zugängliche Hauptschalter und eine dokumentierte String­führung, damit Rettungs­kräfte im Brandfall die Anlage spannungs­frei schalten können. Gleichzeitig verlangt die VDE-AR-N 4105 seit 2018, dass Anlagen oberhalb der 135-Kilowatt-Linie entweder am Mittelspannungs­netz einspeisen oder Blindleistungs-bereitstellung nach einem abgestuften Q(U)-Kennfeld ermöglichen. Das bedeutet zusätzliche Kosten für Trafo­stationen oder Regel­schnittstellen, die in den Business Case einkalkuliert werden müssen. Ohne frühzeitige Klärung mit dem Netzbetreiber drohen monatelange Verzögerungen bei der Inbetriebnahme.

5. Brandschutz nach VDE-Normen: Mehr als nur ein Feuerlöscher neben dem Wechselrichter

Statistik­auswertungen der Versicherer zeigen, dass PV-Anlagen nicht häufiger brennen als andere Elektro­installationen. Doch wenn es zum Feuer kommt, verschärfen brennende Kunststoff­kapselungen und DC-Lichtbögen die Situation. Die heute gültige DIN VDE 0100-420 empfiehlt deshalb den Einsatz von Fehlerlichtbogen­Schutzeinrichtungen (AFDD) in Risikobereichen und fordert eine penible Trennung von Gleich- und Wechselstrom­leitungen, um Kabelbrände zu vermeiden. Parallel regeln die VdS-Richtlinien 3145, welche Baustoffe für Dach­durchdringungen zugelassen sind und wie Leitungen brandsicher ins Gebäude geführt werden. Ein Brandschutz­konzept muss diese Vorgaben mit den jeweiligen Landesbauordnungen harmonisieren. Es beschreibt, wie Wartungsgänge freigehalten, Feuer­widerstands­klassen eingehalten und Löschwasser­eintrag ins Gebäude verhindert werden. In vielen Förder­programmen – etwa bei der KfW – ist ein solches Konzept bereits Zulassungs­bedingung.

6. Montage­phase: Wenn Theorie auf Praxis trifft

Selbst mit perfekter Planung entsteht die größte Fehlerquelle oft beim Einbau. Häufige Stolpersteine sind falsch gesetzte Dach­durchdringungen, unzureichend angezogene Drehmomente an Modulklemmen oder nicht gekennzeichnete DC-Kabel. Bei Indach- und Aufdach­systemen aus Aluminium verträgt das Metall keine Spannungs­korrosion. Darum sollten die Monteure Edelstahlschrauben mit definierter Vorspannung verwenden und Dehnfugen in Ost-West-Richtung berücksichtigen. Qualitäts­sicherung passiert am besten auf drei Ebenen: Sichtprüfung jedes Montage­schrittes, dokumentierte Drehmoment-Messungen und elektrische Inbetrieb­nahmeprüfung nach DIN VDE 0126-23-1. Letztere umfasst Isolations­messung, Erdungs­widerstand und Thermografie der Anschluss­dosen bei Volllast. All diese Testergebnisse fließen in das Abnahmeprotokoll, das später Versicherer und Netzbetreiber sehen möchten.

7. Betrieb und Wartung: Die unterschätzte Rendite­schraube

Eine Anlage über 100 kWp produziert im Jahr mehr als 90 000 kWh Strom und generiert damit fünf- bis sechsstellige Umsätze. Selbst ein Prozent Minderertrag kostet also schnell tausend Euro im Jahr. Betreiber unterschätzen oft, wie stark Staubablagerungen, defekte Bypass-Dioden oder Mikrorisse den Output drücken. Die VDE-Fachinformation 0126-6 rät zu jährlicher Sicht- und Wärmebild­inspektion sowie stringgenauer Leistungs­auswertung. Mittlerweile entdecken Drohnen mit Hyperspektral­kameras Hotspots in wenigen Minuten – günstiger, als Gerüst­bauer für jedes Dachmodul aufzubieten. Werden Mängel früh beseitigt, amortisiert sich die Anlage schneller als jede Excel-Kalkulation vorhersehen kann.

8. Versicherung und Haftung: Warum Dokumentation König ist

Industrie­versicherer wie HDI oder Allianz erneuern ihre Police­bedingungen regelmäßig. Eine Grundvoraussetzung für vollen Deckungs­schutz sind normgerechte Installation, Wartung und lückenloser Nachweis. Hier schließt sich der Kreis zum Statik­gutachten und Brandschutz­konzept. Wer ausschließlich PDF-Pläne ablegt, übersieht, dass Versicherer zunehmend digitale Zwillinge oder BIM-Modelle verlangen, um Risiken realistisch zu bewerten. Liegt ein solcher Zwilling vor, lässt sich im Schaden­fall minutengenau rekonstruieren, welche Komponente wann gewartet wurde und ob ein Bedienfehler vorlag. Das reduziert Stillstands­zeiten, weil Ersatz­module passgenau bestellt werden können – ein Aspekt, den viele Business-Cases bislang ausblenden.

9. Fazit: Der Retrofit ist kein Randprojekt, sondern die Königs­disziplin

Auf den ersten Blick wirkt es verlockend, ungenutzte Dachflächen in Solar­kraftwerke zu verwandeln, die Stromkosten senken und CO₂-Bilanzen verbessern. Doch wer die technischen und normativen Hürden unterschätzt, riskiert Kosten­explosionen und Genehmigungs­marathons. Ein belastbares Statik­gutachten schafft die Grundlage dafür, dass Dach und Module in jeder Wetterlage sicher harmonieren. Ein detailliertes Brandschutz­konzept nach DIN VDE 0100-420, VdS 3145 und den jeweiligen Bauordnungen sorgt dafür, dass Feuer­wehren den Ausbau nicht im Nachhinein stoppen. Und eine saubere elektrische Planung gemäß VDE-AR-N 4105 stellt sicher, dass der Netz­betreiber die Anlage nicht wegen Blindleistungs­problemen vom Netz nimmt. Wer diese drei Säulen früh zusammenführt, verwandelt das vermeintliche Risiko „PV-Retrofit“ in einen planbaren Asset-Baustein mit zweistelligem Rendite­potenzial und messbarem ESG-Effekt.